„In den umliegenden Dörfern dürfen keine grösseren Schneemänner als ich gebaut werden.“ – „Alle müssen mich ehren.“ – „Alle müssen mir gehorchen.“ Der Schneemann, den die Kinder des Dorfes am Tag zuvor gebaut haben, ist über Nacht lebendig geworden. Und herrschsüchtig. Und niemand, kein Mensch im ganzen Dorf traut sich, ihm zu widersprechen. So vertreiben die Menschen die Sonne, fällen alle Bäume, damit der Frühling niemals kommen und der Schneemann niemals schmelzen kann. Die Sonne sieht zu und wartet – bis sie genug hat und die Wolken beiseite schiebt, um die Menschen des Dorfes zu wärmen und den Schneemann zum Schweigen zu bringen.
Mit seiner Parabel erzählt der iranische Autor eine Geschichte, die überall auf der Welt geschehen sein könnte und die vielerorts Alltag ist. Sie erinnert an ein unterdrücktes Volk unter der Herrschaft der Schahs oder des Ayatollah Chomeini - kann aber genauso auf jede andere Diktatur, einen Pausenplatz oder eine Familie zutreffen. Sie ist ein Zeichen der Hoffnung. Ein Aufruf, „Nein!“ zu schreien. Im Nachwort sagt Shodjaie passend: „Ich wünsche mir, dass kein Kind auf der Welt in seinem Leben einem Schneemann begegnet, der Kälte verbreitet und nicht schmelzen will.“ Naiv illustriert zeigt sich auf jeder Seite der Wandel, den die Menschen unter dem Schneemann erleben. Der filigrane, persische Originaltext begleitet passend die sanften Zeichnungen und verleiht dem Buch eine weitere spannende Ebene. Die Leserichtung des Buches, von hinten nach vorne, respektiert und ehrt auf diese Weise dessen Ursprung und unterstreicht dessen Authentizität. Viel mehr als ein Bilderbuch für Kinder ist dieses Werk eine Brücke zwischen den Kulturen und schafft es, ohne Vorurteile eine Geschichte zu erzählen, bei der es, so stellen die Lesenden bald fest, keine kuturellen, religiösen oder politischen Tendenzen gibt. Kälte gibt es überall. Sonne zum Glück aber auch. Andrea Eichenberger